Reflektionen zum Ramadan
Sowohl der Beginn als auch das Ende des Ramadans ist für Musliminnen und Muslime mit starken Emotionen verbunden. Die Zeit wird mit großer Freude und Sehnsucht erwartet und auch mit großer Trauer wieder verabschiedet.
Den Ramadan nur auf „das Verzichten auf Essen und Trinken für eine bestimmte Zeit“ zu reduzieren, wird dem Verständnis und dem Sinn nicht ansatzweise gerecht. Der Verzicht bezieht sich außerdem nicht nur auf das Verzehren von Nahrungsmitteln und Getränken, sondern unter anderem auch auf Streit und übler Nachrede sowie unangemessenes und schlechtes Benehmen. Die Enthaltsamkeit ist die äußerste Form des Fastens sowie das Mittel zum Zweck. Doch was wird bezweckt und was macht es mit den Fastenden?
Die Bedeutung des Ramadans erstreckt sich von spirituellen, gemeinschaftlichen bis individuellen Aspekten. In dieser Zeit wird unter anderem das Gemeinschaftsgefühl gestärkt, indem Musliminnen und Muslime – unabhängig von Geschlecht, Alter, Nationalität und/oder weiteren persönlichen Merkmalen – zu Iftarmählern und Gebeten in den Moscheen zusammenkommen und den segenvollen Monat gemeinsam ausschöpfen. Außerdem gibt der Ramadan den Gläubigen die Möglichkeit, in sich zu kehren, die eigene Beziehung zu Allah zu stärken oder gar von neuem aufzubauen und zu definieren.
Der Ramadan ist für Musliminnen und Muslime der Raum und die Zeit, um neue Selbsterfahrungen zu sammeln, die eigenen Grenzen kennenzulernen und zu erweitern sowie aus der persönlichen eingefahrenen Komfortzone herauszutreten. Außerdem ist es die Gelegenheit, sich mit dem eigenen Konsumverhalten auseinanderzusetzen. Wir leben im Zeitalter des unreflektierten Konsums und verbrauchen immer mehr, ohne uns bewusst zu machen, was es mit uns als Menschen und unserem wunderschönen Planeten Erde macht. Es ist genau die Zeit und Möglichkeit sich unter anderem mit Fragen wie „Wie viel verbrauche ich? Was verschwende ich?“ zu beschäftigen und anschließend das eigene Konsum zu überdenken und dementsprechend für sich neu zu definieren.
Es geht auch darum, die Befindlichkeit von hungernden Menschen weltweit ein Stück nachzuempfinden. Selbstverständlich ist das Verzichten von Essen und Trinken für eine bestimmte Zeit für Fastende nicht annähernd ein Maßstab für das lebenslange Hungern von Menschen! Das Fasten soll vielmehr an diese Lebenswirklichkeit erinnern. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen litten 2017 rund 821 Millionen Menschen weltweit an Hunger – also etwa jeder neunte (11%). Jeder Neunte weltweit!
Das Fasten soll Musliminnen und Muslime dazu bewegen, sich über diese Zahlen zu empören, aktiv zu werden, sich zu engagieren und Veränderungen im gesellschaftlichen sowie individuellen Leben anzustreben, um diese Zahl zu verringern.
Demzufolge sollen Musliminnen und Muslime die als Selbstverständlichkeit geltenden Komponenten Zeit und Wohlstand mit Dankbarkeit genießen und sich immer wieder bewusstmachen, dass alles, was zum Leben gebraucht wird, von Allah kommt!
Für mich ist der Monat Ramadan nicht nur eine bestimmte Zeit, sondern eine Haltung. Eine Haltung, die Musliminnen und Muslime auch in den restlichen Monaten des Jahres einnehmen sollten und sogar müssten, um dem Wortsinn des “Islams“ gerecht zu werden und Allahs Wohlwollen zu erlangen.
Jedes Jahr braucht die Lektion “Ramadan“ eine persönliche kritische Reflektion, um den individuellen Lernerfolg messen zu können. Der Maßstab ist man selbst. Folgende Fragen und Impulse können einen Rahmen dafür geben:
- Was fällt mir zu Ramadan ein? Was verbinde ich damit?
- Wie habe ich mich zu Beginn des Ramadans gefühlt? Wie fühle ich mich jetzt?
- Was ist mir schwergefallen? Was war leichter als ich gedacht habe?
- Die Frage aller Fragen, die mir gestellt wurde…
- Welche Vorsätze und Ziele hatte ich für die Ramadan-Zeit?
Welche davon konnte ich umsetzen und warum?
Welche davon konnte ich nicht umsetzen und warum?
- Was war neu für mich? (Erfahrung, Wissen etc.)
- Mein schönstes Ramadan-Erlebnis?
- Hat sich etwas in meinem Leben/in meinem Bewusstsein/in meiner Haltung verändert?
Wenn Ja, was hat sich verändert? Woran habe ich es gemerkt?
- Was nehme ich von der Ramadan-Zeit für die nicht-Ramadan-Zeit mit?
Möge Allah das Fasten und die Gebete aller annehmen und die Möglichkeit geben, den Ramadan im kommenden Jahr erneut empfangen und erleben zu dürfen, um dadurch in erster Linie für sich zu lernen und wieder ein Stück zu wachsen! Amin!
Seda Karabacak
Publiziert in Ayasofya Nr. 63