Die Verzweiflung des Geduldigen
Für eine Minderheit ist es und war wohl stets mühsam sich zwischen Anpassung und Selbstständigkeit einen Standpunkt zu erarbeiten, von dem aus der Gemeinschaft und der Einzelne ihr Leben entspannt gestalten können. Dabei ging es um den Lebensstil im Alltag, von dem die Mehrheit Unauffälligkeit erwartete, um bei Abweichungen zu fragen, warum machst du, macht ihr es anders als wir? Viele in eine Mehrheit eingewanderte Minderheiten lernen in zwei Welten zu leben: Kulturell wie sprachlich werden die Einzelnen bilingual. Dies gilt auch für das Höflichkeitssystem. Ein türkisch-stämmiger Junge wechselt sein Benehmen, wenn er zu Hause in der Familie ist oder in der Schule bzw. am Arbeitplatz. Diese Haltung kann im Extremfalle zu zwei parallelen Gesellschaften führen, die zwar sich überschneidende Lebensfelder haben, aber weitgehend aneinander vorbei leben. Ein Blick zumindest in die europäische Geschichte zeigt, welche Konsequenzen diese Entwicklung haben kann. Beide Gesellschaften unterstellen dem jeweils anderen Aggression, Verweigerung, üble Absichten und Interessen, die dem gesellschaftlichen Gemeinwohl entgegengesetzt sind. Minderheiten können so leicht in den politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Mehrheit zu Projektionsflächen werden, auf die die Mehrheitsgesellschaft alles Mögliche projizieren kann. Im schlimmsten Falle wird die Minderheit für die Mehrheit zum „Sündenbock“.
Diese negative Entwicklung bekommt man von historischen Pessimisten immer gerne dargestellt. Aber es gab auch fruchtbare Begegnungen wie in Andalusien, im Europa des 19. Jahrhundertes oder zur Zeit Akbar des Großen in Indien. Auf solche Perioden folgten häufig Abschnitte heftiger u. U. kriegerischer Distanzierungen mit ihren menschlichen Katastrophen, die im zwanzigsten Jahrhundert ein bis dahin in der Geschichte unbekanntes Ausmaß erreichten. Die europäische Antwort war und ist das Bemühen um Dialog. „Man muss miteinander reden, um nicht aufeinander zu schießen“, hieß es in den Hochzeiten des Kalten Krieges zwischen dem freiheitlichen westlichen und dem sozialistischen östlichen System. Und in Bezug auf die religiösen Konflikte mit der jüdischen Minderheit sollte das Gespräch das Aufkommen untergründiger Vorbehalte verhindern.
Der Dialog wurde zur politisch korrekten Haltung, in die die Mehrheit auch die neue islamische Minderheit einband. Den deutschen Muslimen folgten darin nach einigen Jahren auch Muslime, die aus anderen Ländern eingewandert waren. Akademien, örtliche Kirchengemeinden, Christlich-islamische Gesprächskreise und neuerdings kommunale Religionsräte institutionalisierten den Dialog, mit dem Ziel den Glauben einer Minderheit nicht zum Konfliktstoff werden zu lassen. Die vielleicht interessanteste Form entwickelte eine kleine Gruppe um Dr. Rolfes in Bremen, die im Winter zu interreligiösen Literaturgesprächskreisen einladen. Auf diese Weise erweiterte sich der Kreis angesprochener Menschen ständig, ohne daß die Zahl der Engagierten wesentlich gestiegen ist. Hinzu kommt, daß sowohl die am Rande mit Unterstützenden und die Zuhörer bzw. Teilnehmer eine hohe Fluktuation aufweisen. Und wer kurz- oder mittelfristige Änderungen erreichen wollte, stand und steht vor der Tatsache, daß er bzw. sie zum hundertsten Male die identischen Fragen bei antworten mußte. Manches Mal stellten sie die gleichen Hörer.
So fragt sich der eine oder andere junge Muslim nach einer Weile, warum er sich dem unterzieht, wenn „doch nichts heraus kommt“. Ältere und im Dialog Erfahrene verweisen dann auf die qur´anische Tugend der Geduld. Schon in einer der ersten Offenbarungen mahnt der Allbarmherzige Allerbarmen, Gott, der Erhabene, daß die Gläubigen „sich gegenseitig zur Wahrheit anhalten und sich gegenseitig zur Geduld anhalten“ sollen (103: 3). Wer jedoch in seinem Leben einer solchen Aufforderung nachkommen will und sie in seinem Leben verwirklichen möchte, der weiß durch wie viel Verzweiflungen er gehen muss. Sie hat mindestens zwei Stadien: So gilt es auch dann die Ruhe zu bewahren, wenn ein Fragender nicht fragt, sondern unterstellt, daß z. B. der „djihad“ aggressive Mission sei. Auf dem einsamen Weg nach Hause hat er Muslime die Aufgabe, mit seiner Verzweiflung der scheinbaren Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen fertig zu werden, ohne in die Bitterkeit oder die Klage vor Ihm, dem Allmächtigen, zu verfallen. . . . . . auch, wenn es lange dauert. An solchen Tagen kann selbst dem Engagiertesten das Gefühl der Resignation befallen.
Aus dem Felde zu gehen, bedeutet es „anderen“ zu überlassen. Und damit die Wiederholung der Geschichte zu akzeptieren? In diesem Zusammenhang und vielleicht in keinem ist das Khalifat (2: 30) kein billiges Geschenk, vielmehr Herausforderung der Standhaftigkeit. Und wie heißt es im ehrwürdigen Text: „Oh ihr, die ihr glaubt! Sucht Hilfe in Standhaftigkeit und Gebet; Allah ist mit den Standhaften.“ So führt die Verzweiflung des Geduldigen durch das Tor des Gebetes, zu dessen lebenslanges Lernen es gehört?
Allein Gott weiß es besser.
Wolf D. Aries
Publiziert in: Ayasofya Nr. 28