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20 Minuten – Die Brücke zwischen Distanz und Vertrauen – Ayasofya Zeitschrift – Die Zeitschrift für Wissenschaft, Integration und Religion

20 Minuten – Die Brücke zwischen Distanz und Vertrauen

20 Minuten –
Die Brücke
zwischen Distanz
und Vertrauen

 

Am 12. Mai 2017 war ich auf der 8. Leben und Tod Messe
in Bremen am Stand des DITIB Landesfrauenverbandes
Niedersachsen/Bremen e.V. als pädagogische Fachkraft mit
dabei und hauptsächlich für die Betreuung von Schulklassen
zuständig. An dem Tag kam ich mit zahlreichen Menschen
ins Gespräch und wir redeten über den Tod und die
Bestattungskultur im Islam. Wir waren der einzige Stand isla-
mischen Glaubens und das Interesse der Besucher_innen
war dementsprechend groß. Ich redete unter anderem mit
Lehrer_innen, Ärzt_innen, Altenpfl eger_innen und mit vielen
weiteren Menschen mit Berufen aus dem sozialen Bereich.
Unter diesen vielen Begegnungen hat mich eine einzige
besonders stark geprägt.
Ich stand vorne am Stand
und war bereit Menschen
zu empfangen und
ihnen Informationen
zu vermitteln und ihre
Fragen zu beantwor-
ten. Mir ist eine Person,
die mit dem Rücken zu

mir gekehrt war, aufgefallen. Diese Person weichte mit dem
Aussehen von der „Norm“ ab. Der männliche Körper war in
weibliche Kleidung gehüllt. Es dauerte einige Rundgänge, bis
sich diese Person an unseren Stand näherte.
„Entschuldigung“, sagte sie mit einer starken männlichen
Stimme, „darf ich erfahren, was Sie hier so vertreten?“ Ich
lächelte und antwortete: „Natürlich! Das ist der Stand des
muslimischen Dachverbandes DITIB und wir stellen den Tod
und die Bestattungskultur im Islam vor.“
Nach einem kurzen Augenblick hörte ich nur ein lang gezo-
genes „Oookaaay!“ und
sah den entsetzten
Gesichtsausdruck von ihr
und wie sie mit einem
Schritt nach hinten sich
von unserem Stand
distanzierte.
Sie fi ng an leiser zu
sprechen und wir beide
kamen ins Gespräch. Sie

erzählte mir, dass sie Angst vor dem Islam habe, vor allem
Angst vor muslimischen Männern, vor muslimischen Frauen
fürchte sie sich nicht. Wir kamen über die Medien zu sprechen
und ich sagte ihr, dass man den Berichterstattungen der
Massemedien nicht blind vertrauen kann. Unser Gespräch
ging fort und sie vertraute mir mit der Zeit ihre Gefühle an. Sie
erzählte mir von dem Tod ihrer Mutter und von ihrem Glauben
und den Jenseitsvorstellungen. Ich sprach mein Beileid aus
und sagte: „Sehen Sie? Wir haben etwas Gemeinsames. Denn
ich bzw. die Muslime glauben auch an das Jenseits und an
einen Tag des Jüngsten Gerichts!“ Sie lächelte. Nebenbei bot
ich ihr „Turkish delight“ an und sie nahm es dankend an. Wir
redeten über die Kraft des Glaubens und über die Resilienz
eines Menschen, die sich davon nährt.
Irgendwann sprachen wir darüber, wie die Welt schöner und
friedlicher werden könnte. Im Verlauf des Gesprächs sagte sie

zu mir: „Ich bin übrigens eine Sie!“ Ich führte meine rechte
Hand auf mein Herz und sagte: „Ich nehme Sie so an, wie Sie
sind!“ Sie lächelte. Ich ergänzte: „Ich nehme Menschen so an,
wie Sie sind und möchte auch so angenommen werden, wie
ich bin! Mit meinem Glauben, mit meinem Aussehen, mit
meinem Kopftuch.“ „Selbstverständlich!“, erwiderte sie und
sagte: „Jede_r sollte so leben können, wie er/sie es möchte!“
„Da gebe ich Ihnen recht!“, sagte ich und fügte hinzu: „Leben
und leben lassen, solange keine Freiheit eines Anderen eingeschränkt
wird oder jemand zu Schaden kommt!“ „Wir denken
gleich! Die Welt wäre viel schöner, wenn es nur Menschen
wie Sie und mich geben würde!“, sagte sie überrascht. „Wie
würden wir es herausfinden, wenn wir nicht in den Dialog
treten würden?“, fragte ich sie. „Wir müssen miteinander
reden, um einander zu verstehen. Ansonsten bauen wir eine
Mauer aus Vorurteilen um uns herum und sind Gefangene
unserer selbst kreierten Angst.“ Sie nickte und fragte mich,
ob ich am nächsten Tag auch auf der Messe bin. „Ich weiß
es noch nicht“, antwortete ich. „Ich werde Sie morgen wieder
besuchen!“, sagte sie mit einem Strahlen im Gesicht. „Gerne!“,
sagte ich und lächelte.

Während des Gesprächs ist mir gar nicht aufgefallen, dass
sie sich wieder dem Stand angenähert hat und die Distanz,
die sie gesetzt hatte, nicht mehr vorhanden war. Zu meiner
Überraschung reichte sie mir ihre Hand und lächelte. „Es hat
mich gefreut!“, sagte sie. Ich gab ihr meine Hand und während
unseres Händedrucks lächelte ich zurück und sagte: „Mich
auch!“ Sie wirkte erleichtert und schaute nochmal zurück zu
mir, als sie sich von unserem Stand entfernte.
Am nächsten Tag war ich leider nicht auf der Messe. Ich weiß
auch nicht, ob sie wieder dort war und unseren Stand aufgesucht
hat. Diese Begegnung bedeutet mir deswegen so viel,
weil alle anderen Gespräche im Durchschnitt ca. 5 Minuten
dauerten. Dieses dauerte 20 Minuten.
20 Minuten, die mit einem Schritt nach hinten anfingen und
mit einem Händedruck endeten.
20 Minuten, in denen einige Gemeinsamkeiten entdeckt
worden sind, obwohl man „anders“ war.
20 Minuten, in denen man ins Gespräch kam und somit angefangen
hat, die eigene Mauer aus Vorurteilen zu zerstören.
20 Minuten – eine Lehre, die weltweit in keinem Buch zu
finden ist!
Ich kann stundenlang über meine Gedanken und Gefühle
schreiben. Ich kann seitenlang versuchen zu erklären und
zu beschreiben, warum mir diese Begegnung so wichtig ist
und was es mit mir gemacht hat. Ich werde es aber zusammenfassend
mit nur einem Satz wiedergeben. Ein Satz, der
unendlich viel in sich verbirgt. Genau wie diese Begegnung
auch. „Yaradılanı severim yaradandan ötürü!”/ “Ich liebe das
Geschöpf um des Schöpfer‘s Willen!“ Yunus Emre

 

Seda Karabacak
Ayasofya Nr. 58