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Welche Wirklichkeit ? – Grenzen der Wirklichkeit – Ayasofya Zeitschrift – Die Zeitschrift für Wissenschaft, Integration und Religion

Welche Wirklichkeit ? – Grenzen der Wirklichkeit

Welche Wirklichkeit ? – Grenzen der Wirklichkeit

 

Wolf D. Ahmed Aries

Wer die Berichte und Beurteilungen der Deutschen Islam Konferenz (DIK) in den Zeitungen liest, der wird sich fragen, ob die Autoren ein und dieselbe Veranstaltung besucht haben. Solche Differenzen sind ein alt bekanntes Phänomen: Jeder Beobachter schildert einen Vorgang eben von seinem Standpunkt aus und innerhalb der Perspektive, die der Standpunkt zulässt. Und was der Beobachter nicht wahrnimmt, von dem kann er auch nicht berichten, d.h. sprechen oder schreiben.

Jegliche Wirklichkeit ist zu dem nur eine Momentaufnahme der sich ständig verändernden Welt. Dies wird deutlich, wenn man sich vorstellt, jemand hätte in den achtziger Jahren eine solche Konferenz organisiert. Man könnte sich auch überlegen, wenn Frau Kelek oder Herr Dr. Köhler zu einer Islamkonferenz eingeladen hätten. Und so war die DIK das Ergebnis der Realitätswahrnehmung der Einladenden. Sie konstruierten eine islamische Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland, die es weder vorher gab noch möglicher Weise nach dem Ende der DIK geben wird.

Im Dialog zwischen einer Mehrheit und ihrer Minderheit sind Unterschiede in den Selbstbildern und den Fremdbildern, wie man in der Sprache der Soziologie sagt, normal. Sie sagen dem Einzelnen, wie der Andere in Wirklichkeit ist, und was er von ihm erwarten darf. Solange wie jemand an seiner Wirklichkeit festhält, um den Anderen zu beschreiben oder zu verstehen, bleibt er dazu verurteilt, an der Wirklichkeit des Anderen vorbei zu reden, Teile seiner Persönlichkeit und seines Lebens gar nicht wahrzunehmen oder gar Widersinnigkeiten zu behaupten.

So können Muslime mitten in Deutschland Diskurse zur deutschen Geschichte führen, ohne daß sie irgendjemand wahrnimmt. Die Jama´at Un-Nur veranstaltete beispielsweise vier Symposien in Bonn, an denen sich renommierte Wissenschaftler europäischer Universitäten beteiligten, und deren Tagungsbände von fast jeder Universitätsbibliothek angeschafft wurden; aber niemand nahm diesen Diskurs zu Kenntnis. So veranstaltete das renommierte Steinheim Institut an der damaligen Universität Duisburg eine Tagung, auf der der “Große Sanhedrin“ Napoleon I. mit der “Deutschen Islam Konferenz“ verglichen wurde. Der inner islamische Diskurs wird genauso wenig wahrgenommen. Für das hiesige Interesse besteht “der“ Islam aus dem, was man Arabien bzw. die Türkei nennt. Und die abendlichen Nachrichtensendungen blenden die Bilder all jener Teilnehmer internationaler islamischer Konferenzen aus, die aus China, Indonesien oder Afrika kommen.

Muslime definieren ihre Wirklichkeit ebenso mit der Hilfe der Sprache, die in diesem historischen Zeitabschnitt gebrauchen, ohne zu bedenken, wie tief jegliche Sprache vom Werden, d.h. der Geschichte, der Mit- und Umwelt abhängig ist. So mag man korrekter Weise das Wort ´´Kalam´´ mit dem Wort ´´Theologie“ wiedergeben; dennoch meinen beide Wörter als Begriffe nicht dasselbe.

So diskutiert das Risale-i-Nur Glaubensfragen, die wohl alle Menschen betreffen, aber Said Nursi tat es in der Sprache einer Wirklichkeit, mit der Westeuropäer Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Fragen wiederzuerkennen.

Im Alltag werden die Bruchstellen der Verständigung über das, was wirklich ist, nur selten fassbar, und wenn sie auftreten, dann werden sie meistens bagatellisiert. Man hat sich eben missverstanden, oder dem Gesprächspartner wird erklärt, daß es bei Muslimen eben anders sei.

Geradezu (tages)politisch wird die unterschiedliche Wahrnehmung der jeweiligen Wirklichkeit, wenn es um die Erzählungen von der Vergangenheit geht. Was geschah damals wirklich? Der Bericht eines Zeitzeugen trifft im Schulunterricht auf die Wirklichkeit des wissenschaftlichen Kategoriensystems. Im Religionsunterricht lernt der Schüler die Wirklichkeit von Forschungsergebnissen kennen, die er mit seiner Glaubenswirklichkeit zusammenfügen muss. Wer dies nicht tun kann oder will, der entscheidet sich entweder die eine Wirklichkeit zu verdrängen oder in zwei Wirklichkeiten zu leben. In der Moderne gibt es viele Menschen, die in zwei fast unverbundenen Wirklichkeiten leben: dem des Berufes und des Hobbys, des Urlaubes und der Familie, des Glaubens und der Schule.

Dabei verdrängen Muslime die Tatsache, daß das existentielle Khalifat (2:30) nur eine Verantwortung kennt, die in der Sura “Das Erdbeben“ (az-Zalzala) ihren Ausdruck gefunden hat: „Und wer Gutes (auch nur) im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen. Und wer Böses (auch nur) im Gewicht eines Stäubchen getan hat, wir es sehen.“ In welcher Wirklichkeit der Gläubige auch immer handelt oder auch nur schlicht sich verhält, er trägt stets die Verantwortung für sein Verhalten.

Publiziert in: Ayasofya, Nr.29, 2009

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