Der philosophierende Gläubige
Manche Muslime fühlen sich ausgesprochen unwohl, wenn das Gespräch im Kreis von Gläubigen auf Fragen der Philosophie kommt. Sie neigen dazu, alle Philosophen und Intellektuelle für Atheisten zu halten und fragen sich, warum ein Gläubiger über Probleme nachdenken sollte, die doch alle bereits im Qur´an beantwortet seien. Sie übersehen dabei, dass der Qur´an selbst an mehreren Stellen die Gläubigen zum Nachdenken auffordert – u.a. in 59:21 und 30:21. Hinzu kommt jener bekannte Hadith, dass „die Gelehrten meiner Gemeinschaft gleich den Propheten der Kinder Israels“ seien.
Aber auch zahlreiche europäische Philosophen sehen zwischen Religion und Philosophie einen unüberbrückbaren Graben. Schließlich verträten sie die Vernunft, während in der Religion der Glauben dominiere. Folgerichtig betonen sie bei der Diskussion der arabischen Philosophen deren Rationalismus und übersehen dabei, dass ein Gelehrter gleich Ibn Rushd, dessen europäischer Name Averroes ist, als Muslim gemäß der Shari´a lebte; zudem war er der oberste Richter Cordobas; und man erzählt sich, dass er bei besonders schwierigen Problemen zum Gebet in die Moschee ging.
So betont Hossein Nasr in seiner „Geschichte der Islamischen Philosophie“, die er gemeinsam mit Oliver Leaman erarbeitete, wie tief sich die islamischen Denker an die Offenbarung gebunden fühlten. Der aus der griechischen Welt stammende Begriff der ´Philosophie´ enthielt für sie daher stets zwei Optionen: die falsafa selber und hikma, was die einen mit kalam (Theologie) und die anderen mit Wissen und Handeln verbanden. In der technisch dominierten Moderne wurde daraus `Wissenschaft`. Für den gebildeten Ali Normalverbraucher ist hikma das, was man im europäischen Kontext am besten mit Weisheit wiedergibt; und von einem hakim, einem Weisen, erwartet der Muslim, dass er sich entsprechend der erreichten Weisheit verhält, was in Europa selbst für Moralphilosophen als eine Zumutung empfunden wurde, jedoch in den von der Orthopraxie geprägten islamischen Mehrheitsgesellschaften als völlig normal empfunden wird.
Der Widerstand gegen das philosophische Denken kam in der ummah von drei verschiedenen Gruppen: So meinten Gelehrte gleich Ibn Taymiyyah, dass das Philosophieren den Gläubigen von der Shari´a entferne, sie sei jedoch die Rechtleitung schlechthin.
Wenn man unter dem islamischen Begriff ´kalam´ das versteht, was man hier unter Theologie begreift, dann kam von dort der zweite Widerstand. Es ging dabei um die Vernunft, aql, und das Ausmaß ihres Einsatzes im Denken. So befürchtete man, die Rationalität könnte die Theologie verdrängen.
Einige Sufis, sie waren die dritte Gruppe, bezweifelten, ob die Vernunft den Menschen auf Gott zuführen könne. Sie meinten, dass der Gläubige auf seinem Wege erst die Ratio überwinden müsse, um sich so Gott und der Wirklichkeit zu nähern.
Bei kritischer Betrachtung haben die orientalisch-islamischen Denker ihre Rezeption der griechischen Gedankengebäude ihrem von Qur´an und Sunna, von Tawhid und Offenbarung bestimmten Denken angepasst, was die Europäer dazu zwang, die griechischen Texte von der arabischen „Übermalung“, wie Cathrine Wilson schrieb, zu befreien. Zudem kannte und kennt der Muslim keine dogmatischen Aussagen, wie sie dem christlich-kirchlichen Denken vertraut sind und in der Literatur der Kirchenväter, Patristik, ihren Ausdruck fanden. Nun mag man religionswissenschaftlich darüber streiten, ob die im Laufe der Geschichte der ummah herausgearbeitete Bedeutung der sahabi der der Kirchenväter entspricht.
Durch ihre strenge Einbindung des Philosophierens in die islamische Lebensweise, dem din, was gerne auf den Begriff des ´Glaubens´ reduziert wird, entwarfen die Gelehrten ihre eigenen Fragen, mit denen man im christlich-kirchlichen Europa wenig anzufangen wusste. Dazu gehörten und gehören die Probleme der niya oder die Namen des Einen.
Über beide Fragestellungen dachten vor allem die Sufis nach. Leider hat man im Abendland davon „nur“ die zauberhafte Dichtung eines Rumi oder Hafez wahrgenommen. Eine große Zahl islamischer Gelehrter, verbanden jedoch Mystik und Philosophie, so dass der französische Forscher Henri Corbin ihr Philosophieren als ´Theosophie´ bezeichnete.
Nun ist wohl heute kein Gelehrter mehr in der Lage so breit zu arbeiten wie die Philosophen früherer Jahre, die nicht von ihrer Philosophie lebten, sondern von ihrem Brotberuf als Richter, Ärzte etc. Allerdings leisteten sie auch dort Herausragendes, deren Werke ins Lateinische Medizinische und Pharmakologische übersetzt wurden und großen Einfluss in Europa haben sollten. Nachträglich betrachtet fällt auf, wessen Arbeiten man nicht übersetzte.
Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte entwickelte sich eine Vielzahl von Wissenschaften aus der Philosophie gleich der Psychologie und der Soziologie; und aus diesen Wissenschaften entfalteten sich wiederum mehrere selbständige Fachwissenschaften. Dabei wurden die Empirie und der methodische Atheismus zu den allseits beachteten Grundsätzen des Arbeitens. Dies gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern vor allem für die die moderne Lebenswelt vorantreibender Ingenieurwissenschaften, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten. Denkerisch stellen sie für die Muslime keine Schwierigkeiten dar, vielmehr ergeben sich aus ihren Forschungen neue Herausforderungen, auf die die Muslime kreativ reagierten. So gingen Muslime in eigenen Arbeitsansätzen dem Umweltschutz und den medizinischen Fragen des Anfangs und Endes des Lebens nach. Viel problematischer sind die Linguistik, Semiotik oder die gesellschaftlichen Konsequenzen moderner Ingenieurwissenschaften gleich dem Internet, der Mobilität oder der Herstellung von Nahrungsmitteln. Der Interessierte schaue nur einmal das schmale Bändchen „Halal-Speise“ an, das Yavuz Özoguz vorlegte. Wie schwierig es ist in solchen Kontexten Empfehlungen für die Gläubigen zu erarbeiten, das zeigte etwa ein Fachkongress der Al-Azhar, an dessen Ende ein Verbot der pharaonischen Beschneidung ausgesprochen wurde. Damals diskutierten Ulema mit Ärzten unterschiedlicher Fachdisziplinen und Sozialwissenschaftler miteinander.
So „einfach“ geht es bei den Sozialwissenschaften nicht. Der nachdenkliche Muslim mag mit Vergnügen Umberto Ecos Roman „Im Namen der Rose“ gelesen haben, aber die ihm vorausgegangenen Arbeiten zur Semiotik waren und sind für die meisten intellektuellen Gläubigen schwer zu verkraften. Ist danach das Geschehen der Offenbarung ein (schlichter) Kommunikationsprozess eines Signals an einen Empfänger, der einen zeitlichen Prozess der Interpretation auslöste und noch immer auslöst? Wie reagiert man auf die Forschungsergebnisse des Japaners Toshiko Izutsu, der zeigte, wie sich die arabische Sprache im Verlauf der 23 Jahre Seiner Offenbarung veränderte? Haben dann moderne Denker gleich Farid Esack Recht, wenn sie den Entwicklungscharakter Seiner Rede an die wachsende Gemeinschaft in Makka und Jahtrib betonen? Welche Konsequenzen haben derartige Forschungen für den Tafsir?
Unter solchen Umständen philosophierend den Tawhid zu bewahren ist, wie Said Nursi u.a. zeigte, eine personale Herausforderung, um nicht zu sagen, es sei der Jihad der Gegenwart. Natürlich kann sich der Gläubige in die Geborgenheit alltäglicher Orthopraxie zurückziehen und in der Wärme der sich hingebenden Niederwerfung leben, aber wer immer an einer europäischen Hochschule Sozialwissenschaften, Geschichte bzw. Philosophie studiert, der wird sich den Herausforderungen gegenwärtiger wissenschaftlicher Methodik und ihrer Resultate stellen müssen.
Die islamischen Hochschulgruppen tasten sich zurzeit vorsichtig an diesen Fragenkomplex heran. Allerdings fehlt an den deutschen Hochschulen ein spezifisch ausgebildeter Imam, der in der Lage ist, auf die sich aus unterschiedlichen Studienfächern ergebenden Fragen einzugehen oder die Gespräche unter den muslimischen Studenten zu moderieren. Die beiden Großkirchen haben vor vielen Jahren die Position eines Hochschulpfarrers eingerichtet. Die muslimischen Studenten brauchen einen Studentenimam, der ohne Scheuklappen ihre Fragen mit ihnen zusammen bearbeitet. Die neuen Lehrstühle für islamische Wissenschaften konzentrieren sich allerdings auf die Schulen bzw. die Moscheen und haben die Studenten nicht im Blick, was die Tendenz zum personalen Idschtihad verstärkt, der längst zur Normalität geworden ist, ohne dass dies offen diskutiert wird. Ein Hochschulimam wird es tun müssen.
Seine Offenbarung spricht zwanzig Mal von „hikma“ und mahnt immer wieder, dass Seine Offenbarung zum Nachdenken ist. Philosophieren ist Nachdenken über Seine Schöpfung und die Barmherzigkeit Seiner Rechtleitung – nur tun müssen es die Muslime selber. In der Vergangenheit taten es alle muslimischen Generationen auf ihre Weise. Sie suchten nach Antworten auf die Fragen ihrer Zeit und ihrer historischen Herausforderungen. Die großen Philosophen des sog. Mittelalters sahen sich dazu in ihrer Zeit um. So übernahmen Ibn Sina, Ibn Rushd oder Al-Ghazali ohne Scheu das, was die Griechen vor ihnen erarbeitet hatten. Dies taten auch die Muslime des 19. Und 20. Jahrhunderts; nur orientierten sie sich unglücklicherweise vor allem an den naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Erfolgen europäischer Forschung. Die sozialwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Arbeiten stießen bei den meisten Muslimen auf lebhaften Widerstand, weil man sie als Bedrohung des „Glaubens“ empfand. Viele muslimische Ulema wollten die denkerischen Herausforderungen solcher Wissenschaften nicht aufnehmen. Das war für sie keine akzeptable hikma. Nur in Pakistan antwortete Muhammad Iqbal auf Anfragen, die z.B. Goethe gestellt hatte. Die meisten Gelehrten blieben seit dem 19. Jahrhundert in einer Abwehrhaltung, die u.a. durch zwei europäische Bedrohungen begründet gewesen ist: dem geistigen Imperialismus (europäischen Schulen und Universitäten in den Kolonialgebieten) und den beiden europäischen Totalitarismen (nationalsozialistischem Rassismus und leninschen Kommunismus). Dies ist Geschichte, d.h. es war einmal und ist nicht mehr. Abdelwahab Meddeb meinte von einer Krankheit sprechen zu müssen; doch die Verweigerung zu denken ist nicht pathologisch, sondern wohl eher eine Lernblockade.
Die jungen intellektuellen Muslime der dritten Generation, die in den Bildungssystemen ihrer europäischen Nationen heranwuchsen, brauchen Antworten auf ihre Probleme, die sie bisher nur von den radikalen Verteidigern des din bekommen, die ihnen das „Nein“ anbieten, während die Mehrheit der Frommen oder fromm Gebliebenen allein die Orientierung an der shari´a fordert. Aber die Gläubigen in den unterschiedlichen europäischen Kulturen bedürfen der eigenen Antworten, für die der personale Idschtihad nicht ausreicht. Die Hilflosigkeit der Importimame stößt eher ab. So bleibt den Muslimen nichts anderes übrig, als über die qur´anische Herausforderung selber nachzudenken, sie ernst zu nehmen. Arbeiten am corpus coranicum von Angelika Neuwirth, die Reflexionen Bertram Schmitzens über die sura al-baqara oder Hartmut Bobzins Übertragung des Qur´ans, mögen Ansätze zum Nachdenken sein, sie sind jedoch keine innerislamischen, vom tawhid getragenen Aussagen, worauf alle drei Forscher auch hinweisen. Es ist an der Zeit, dass die intellektuellen Muslime beginnen selber nachzudenken. Der geistige djihad wird niemandem geschenkt, sondern er will mühsam erarbeitet sein, der der Waffen gehört vergangenen Jahrhunderten an. Die khalifatische Aufgabe der Bewahrung Seiner Schöpfung wird im 21. Jahrhundert in den Forschungslaboratorien entschieden und an den Schreibtischen jener, die denken.
Wa-llahu a´lam.
Wolf D. Ahmed Aries
w.d.a.aries@freenet.de
Publiziert in der Ayasofya 37, 2011