Als sich im Laufe des 19. Jahrhundertes die Soziologie, d.h. die Sozialwissenschaften entwickelten, da meinten nicht nur die Intellektuellen, sondern auch manch Andere, diese neuen Wissenschaften könnten das Verhalten der Menschen vollständig erklären. Die A-Theisten verwiesen auf die geschichtliche Entwicklung des Geistes, dessen Abhängigkeit von der Entwicklung der Sprache und die Veränderungen, die die zur gleichen Zeit entstehenden Ingenieurwissenschaften. Die Welt schien in ihrer Bedingtheit versteh- und beherrschbar zu werden. Die Forschungen der Althistoriker zeigten zudem wie Mythen und Religionen entstanden waren. So stand nicht mehr die alte Frage nach „der“ Wahrheit im Zentrum des Nachdenkens oder das Staunen über die Erscheinungen der Welt, vielmehr wurde aus der alten Schöpfung die entzauberte und damit manipulierbare Welt. Die Sozialforscher gingen daher angesichts dieser Entwicklung davon aus, dass so etwas wie „Religion“ verschwinden würde. Sie übersahen, dass keine Naturwissenschaft ein Gegenüber ist, mit dem sich der Mensch auseinandersetzen könnte; denn jede auf ihrer Grundlage entwickelte Maschine arbeitet gemäß den vom Ingenieur entdeckten Regeln, die manche Gesetze nennen. Eine solche Regel ist kein „Du“, mit der der einzelne sich auseinandersetzen könnte. Man ärgert sich über das Nicht-funktionieren seines Handys, aber mehr auch nicht. Der Mangel an Wasser im Staudamm wird durch den Verbrauch der Menschen in den Städten verstehbar, aber der Stadtbewohner kann nicht den Staudamm beschuldigen, nicht genügend Strom zu liefern. Es gab also Dinge, über die nicht verfügt werden konnte.
Und so kehrte langsam das Staunen über das „Da“-Sein zurück. In den Medien schrieben Intellektuelle von der Rückkehr der Religion, als würden die alten Mythen Auferstanden sein. Sie übersahen dabei, dass selbst in den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhundertes Menschen gebetet hatten: Christen feierten ihr Abendmahl. Juden hielten den Sabbat. Muslime fielen zum Haus Abrahams gewandt auf die Knie. Sie glaubten.
Eine Religion mag in ihrer Geistesgeschichte zahlreiche Traditionen entwickeln, in denen sicherlich manche Merkwürdigkeit sich entwickelte, doch im Kern steht und stand stets die Bewältigung des menschlichen „Da“-Sein, der mit dem Glauben Sinn gegeben wird. Für Abrahamen, die von der Wahrheit eines Schöpfers ausgehen, heißt diese Grundeinstellung, dass es ein „DU“ gibt, vor dem Sein Geschöpf verantwortlich ist. Der Mensch muss sich in seiner Freiheit zu werden und zu handeln verantworten.
Im Qur´an werden das Gebet und die Zakat an dreißig Textstellen gemeinsam erwähnt, was weit über den Diskurs zu den Muamalat bzw. des Akhlaq hinaus geht, weil das Bekenntnis zu dem Einen nicht nur ein Bewusstsein des eigenen Geschaffenseins impliziert, sondern zugleich die eigene Existenz in die Gemeinschaft der mit geschaffenen Geschöpfe stellt. Im europäischen Diskurs zwingt die Kopula „und“, Gebet und Zakat, zu dem, was wir Europäer eine ethische Diskussion nennen. Es geht um das „Gute“ vor Gott für die Menschen.
Von diesem Standpunkt aus erfährt die menschenrechtliche Religionsfreiheit bzw. die in lutherischer Sprache verfasste Formulierung des Grundgesetzes die Gewissenfreiheit eine fundamentale Erweiterung: Glauben und Handeln gehören für den Muslim undiskutierbar zusammen. Es geht hier nicht um Caritas oder Diakonie, Wohlfahrt oder Solidarität, vielmehr um die Geschöpflichkeit allen Menschseins. Alle Kreatur hat nur einen Schöpfer. Dieses in der Taqwa gegenwärtige Bewusstsein prägt den Muslim. Daher ist seine Zakat kein „gutes Werk“, sondern die Konsequenz aus seinem Bekenntnis.
Beides wird nicht öffentlich vollzogen, wenn auch die Zakat der Beobachtung nicht gänzlich entzogen ist. Während das Credo unter Christen in der Öffentlichkeit der Gemeinde gesprochen wird, spricht der Muslim es schweigend kniend. Die Zakat wird unauffällig an eine Vertrauensperson gegeben, die die Abgabe ebenso ohne Aufhebens weitergibt. Da niemand die Abgabe überprüfen darf und kann, muss der Gläubige vor Gott die Absicht fassen, die Abgabe für IHN zu leisten. So geschieht beides in völliger Gelassenheit, weil niemand dem PR-Grundsatz folgt, man solle etwas Gutes tun und darüber reden. Fromme Muslime halten diesen Satz für abstrus.
Für sie ist die gegenwärtige Aufgeregtheit um die Religion und ihre gehässiger Unterton, dessen sich manche A-Theisten nicht enthalten können, kein Grund ihre Gelassenheit zur Welt aufzugeben. Sie werden weiterhin ihr Gebet verrichten und ihre Söhne beschneiden lassen, weil das Bekenntnis zu dem Einen ihnen die Ruhe gibt, derer andere offenbar entbehren.
Geistliche Führungsgestalten gleich Said Nursi strahlten und strahlen diese Gelassenheit aus, Und wer immer eine Moschee betritt wird die gelebte stille Orthopraxie beobachten können bzw. im Klang des Tadjwid hören dürfen. Muslime erfüllte es mit tiefer Dankbarkeit.
Wolf D. Ahmed Aries
w.d.a.aries@online.de
Publiziert in der Ayasofya 41, 2012