Die Naturerfahrung des Menschen
Meist verschließt sich der geschäftige Mensch äußeren Faktoren wie die der Natur, wenn er im Eilgang seine Runden zwischen Arbeitsplatz, Zuhause und Sonstigem dreht und sich im Zustand stetiger Eile und Unrastgefühlen befindet. Nicht dass sich ihm in Ballungszentren und in Städten, die vollständig asphaltiert zu sein scheinen, allzu viele Möglichkeiten der Naturaufnahme bieten würden, doch im Grunde handelt es sich hier um seine allgemeine Grundhaltung, alles aus utilitaristischer Sicht zu betrachten.
Entgegen diesem haben Kinder meist eine sensibilisiertere Aufnahme der Umwelt als Erwachsene. Die Blume am Wegrand, an der sie – trotzdessen dass sie verwelkt ist, Freude empfinden können, die Pusteblume auf der Wiese, die sie begeistert, der einsame Vogel auf den Ästen des Baumes, welcher vor sich hinzwitschert und dem sie hingerissen lauschen – solche Details des alltäglichen Lebens werden von ihnen bewusster und intensiver wahrgenommen. Hier lässt sich die Frage stellen, inwieweit Kinder dazu angeregt werden können, ihr natürliches Staunen beizubehalten. Wenn das Umwelthandeln und das Umweltbewusstsein eines Menschen höhst erforderlich für das Allgemeinwohl ist, müsste die Naturerfahrung des Menschen schon recht früh sensibilisiert werden. Denn etwas zu erleben führt zum Verstehen des Erlebten, welches dann zum Handeln anregt. Demzufolge ist die Naturerfahrung der Ausgangspunkt für die Vermittlung von Umweltwissen, dies wiederum ist eine Bedingung für umweltgerechtes Handeln (Vgl. Bögeholz 1999, S. 16.).
Durch Anregung zum Umweltschutz- und bewusstsein primär durch die Eltern und sekundär durch Freunde, Umweltwissen und durch Wissen aufgrund von Medien, entwickeln Kinder direkte, umweltgerechte Handlungsintentionen, gemäß dem Motto „Nur was man kennt und liebt, schützt man.“ Doch wie genau sehen hierbei die Naturerfahrungsdimensionen aus, die frühzeitig vermittelt werden sollten, was heißt das auf die Praxis bezogen? Eine Dimension der Naturerfahrung wäre zum Beispiel die ökologische Dimension, erkundend und gegebenenfalls instrumentell an die Natur heranzugehen, sprich Kenntnisse über ökologische Zusammenhänge reflektierend und forschend zu erlernen und dieses bestenfalls am praktischen Umgang mit Pflanzen und Tieren umzusetzen. Diese Näherführung an die Natur ist die prägendste Beeinflussung von Kindern betrefflich ihrer Naturerfahrung und ihres späteren kritischen Naturbewusstseins.
Direkt nach den ökologischen Kenntnissen als größter Einflussfaktor auf umweltgerechtes Handeln steht die ästhetische Dimension- das sensitive Erleben des „Naturschönen“, das Genießen und Wertschätzen schöner Augenblicke in der Natur. Hierbei werden nicht allzu viele naturwissenschaftliche Kenntnisse vermittelt, doch die Gefühle und die Wahrnehmung des Kindes werden für äußere Eindrücke aufmerksam gemacht. Eine weitere Dimension ist die des Sozialen, in dem ein starker Bezug und eine Freundschaft zu einem Tier hergestellt werden, wobei sich bei dieser Dimension der Einfluss auf späteres umweltbewusstes Handeln in einem sehr geringen Rahmen hält (Vgl. Bögeholz 1999, S.184f.).
Abgesehen davon, dass diese naturwissenschaftlich- reflektierenden Kompetenzen zur Persönlichkeitsentwicklung des Individuums immens beitragen, zeigen Forschungsergebnisse zur Untersuchung der obigen Naturerfahrungstypen im Hinblick auf umweltbewusstes Handeln, dass die frühzeitige Sensibilisierung von Kindern weitreichendere Perspektiven bietet, als die der persönlichen Kompetenzentwicklung. Der ökologisch-erkundende Typ zeigt durch sein handlungsrelevantes Umweltwissen ökologischer Konzepte die höchsten Mittelwerte im Bereich Naturschutz, Energie, Verkehr und Müll, dicht nach ihm folgt der ästhetische Typ (Vgl. Bögeholz 1999, S. 116f.).
Demzufolge haben frühes Aneignen von ökologischem Wissen sowie die Sensibilisierung der Gefühle für das Naturverständnis durchweg positive Wirkungen auf Individuum, Gesellschaft und Natur.
Auch das islamische Weltbild ist stark geprägt von dem Verantwortungsgefühl des Menschen zu der Schöpfung, welches ihm von Gott anvertraut wurde, um ihm zu nutzen und um ihn zum Nachdenken und Nachsinnen anzuregen. Somit ist ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein des Menschen auch laut Qur‘an ein großes Erfordernis. „Er hat euch alles dienstbar gemacht, was in den Himmeln und auf Erden ist; alles ist von Ihm. Hierin sind wahrlich Hinweise für nachdenkliche Leute“ (Der Koran, 45:13). An anderer Stelle heißt es: „Siehe, Wir erschufen, was auf Erden ist, als Schmuck für sie, um zu prüfen, wer unter ihnen die besten Werke vollbringt“ (Der Koran, 18:7).
Welcher von den Menschen am besten mit dem „Schmuck“ umgeht und dementsprechend handelt- schließt dieser Vers nicht alle alltäglichen Bereiche des Menschen ein? Angefangen davon, dass der Mensch die Natur auch als solches wahrnehmen solle, dass sie göttliche Briefe mit dem Adressat „Mensch“ darstellt und zum Nachsinnen über Gottes Werke anregt, bis hin zum umweltbewussten Handeln inklusive häuslicher Mülltrennung und dem sparsamen Umgang mit allen erdenklichen Ressourcen wie Wasser, Strom und Papier, hin zum verantwortungsvollen Umgang mit Pflanzen und Tieren, sogar die täglichen Einkäufe im Supermarkt miteinschließend. Wenn diese einzelnen Aspekte in einem Sinnzusammenhang betrachtet werden, wofür der Mensch in allen Belangen die Verantwortung trägt, reflektierend und bedacht zu handeln, müsste in Zukunft insbesondere unter Muslimen mehr Aufklärungsarbeit betrieben werden, was verantwortungsvolles umweltbewusstes Handeln betrifft.
Ein produktiver Ansatz dafür wäre die früh einsetzende und gezielte Förderung von Kindern bezüglich ihrer Naturerfahrung. Allein schon wegen der islamischen Erziehung von Kindern, müssten sie lernen, selbst die kleinste Blume als ein göttliches Lächeln im metaphorischen Sinne wahrzunehmen und Freude an ihr zu empfinden, Dankbarkeit zu zeigen. Denn Kinder als die Erwachsenen der Zukunft sollten ihr natürliches, gottgegebenes Staunen nicht verlieren, damit sie selbst in asphaltierten Städten die Natur auch als solche und in einem Sinnzusammenhang registrieren und in ihren Eil- und Hetzgängen nicht an ihrer eigenen Umwelt vorbeileben.
Sema Nur K?l?çaslan
kilicaslan.sema@gmail.com
Literatur:
- Bögeholz, Susanne: Qualitäten primärer Naturerfahrung und ihr Zusammenhang mit Umweltwissen und Umwelthandeln. Opladen 1999.
- Der Koran. Übersetzer: Max Henning, überarbeitet von Murad Hofmann. München 1999.
Publiziert in der Ayasofya 34 2011