Dietrich Bonhoeffer und Said Nursi: Verantwortung für die Schöpfung übernehmen!
Was haben wohl der islamische Gelehrte Said Nursi und der christliche Theologe Dietrich Bonhoeffer gemeinsam? Auf den ersten Blick gibt es mehr Trennendes als Gemeinsames: Bonhoeffer wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf – Nursi in ärmlichen. Bonhoeffer lebte zur Zeit Hitlers und war im Nazi – Deutschland mit den übelsten Widerständen konfrontiert – Nursi in einer Türkei des Wandels.
Was beiden gemeinsam ist: Beide waren exzellente Theologen: Bonhoeffer wird mit gerade einmal 21 Jahren Doktor der Theologie und Nursi erhält im Alter von 16 Jahren den Titel „Bediüzzaman“ (was soviel wie „Mann der Epoche“ heißt). Beide waren sehr angesehen und ihre Meinung war stets gefragt. Beide hatten und haben auch heute noch viele Follower, wie man in twitter – Deutsch sagen würde. Beiden gemeinsam war ein enormes Verantwortungsbewusstsein, was eben aus ihrem tiefen Gottesglauben herrührte: Dieses Verantwortungsbewusstsein führte dazu, dass sie über den Tellerrand der Theologie schauten.
Doch was sahen sie?
In Deutschland wurde ein Adolf Hitler mit seinen Nationalsozialisten immer mächtiger. Ab dem Jahr 1933 mussten viele, die nicht der gleichen Meinung waren, mit Verfolgung und Tod rechnen.
In Gebiet der heutigen Türkei drohte der Untergang des Osmanischen Reiches: Es kam zum ersten Weltkrieg. Russische Truppen drängten in das Land. Es bestand große Gefahr.
Beide, sowohl Dietrich Bonhoeffer als auch Bediüzzaman Said Nursi, waren in keiner leichten Situation. Sie sahen sich aus dem Glauben heraus in der Pflicht, sich für ihre Umwelt und die Menschen in der Gesellschaft einzusetzen.
Bonhoeffer las viel in der Bibel und vor allem die Bergpredigt ermunterte ihn, bei den Nazis nicht einfach wegzuschauen (Bergpredigt: Rede von Jesus, in der er viel über das richtige Tun und Lassen sagt; z.B. die Goldene Regel: Was Du nicht willst, was man Dir tut, das füge auch keinem Anderen zu).
Bonhoeffers Handeln sollte fortan an Frieden und Gerechtigkeit orientiert sein. Gemäß diesem neuen Leitgedanken komme es weniger auf die „unbefleckte Reinheit des eigenen Gewissens“, sondern mehr auf die konkrete Verantwortung für das Leben anderer Menschen und der Schöpfung an. Die Frage, die sich Bonhoeffer nun stellte, war die: Was ist die größere Sünde? Zuschauen und nicht Handeln oder aktiv Widerstand leisten? Schaut er nur zu, nimmt er keine persönliche Schuld auf sich, weil er schließlich niemandem weh tut. Kämpft er gegen Hitler und denkt sogar an den Tyrannenmord, kommt es sofort zu Widersprüchen mit den 10 Geboten (z.B.: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst; Du darfst nicht töten!). Bonhoeffer entschloss sich gegen Hitler zu arbeiten.
Denn für ihn wäre es eine größere Sünde gewesen, tatenlos zuzusehen, wenn die Schöpfung in Gefahr ist. So hätte er seine persönliche Unschuld höher bewertet als die Verantwortung für die Schöpfung.
Said Nursi vertrat die gleiche Auffassung: Schon als im ersten Weltkrieg sein Land angegriffen wurde, schaute er nicht einfach zu, sondern verteidigte es an vorderster Front. Für ihn ging es darum, dass Atheismus und Religionslosigkeit nicht ohne Weiteres in sein Land eindringen durften. Für seine Überzeugung musste er sogar in russische Gefangenschaft.
In der Zeit nach dem Krieg war ihm eine Modernisierung sehr wichtig, für die er sich engagierte. Nursi stand hierbei für einen starken Rückbezug auf den Glauben, ohne den Moderne nicht möglich sei. Die Gründe für den Untergang des Osmanischen Reiches sah er in Unwissenheit, Armut und Uneinigkeit, nicht in der Religion.
Weil Nursi nicht einfach zuguckte, sondern in das Zeitgeschehen (Krieg, Besatzung…) eingriff, wurde er verfolgt und gefangen genommen. Auch eine spätere Verbannung hinderte ihn nicht daran, weiter an seinem Traum zu arbeiten, den Traum einer modernen und zugleich religiös fundierten Türkei. Er verfasste sein Lebenswerk, die Risale-i-Nur, ein rationaler und auf die Moderne zugeschnittener Korankommentar.
Bonhoeffer war während der schrecklichen NS – Zeit in noch viel größerer Gefahr. Für seine Kirche bildete er im Untergrund Priester aus, was zur damaligen Zeit durch das NS – Regime verboten wurde. Nachdem die Gestapo (geheime Staatspolizei der Nazis) dem auf die Schliche kam, wurde Bonhoeffer sogar ein Schreibverbot auferlegt. So schloss er sich ab 1940 – also schon während des Krieges – einer Widerstandsgruppe an. Zwar beteiligte er sich nicht direkt an Attentatsversuchen. Er stellte Kontakte zum Ausland her. Dort galt er überall als sehr renommierter und hoch angesehener Theologe und hatte viele einflussreiche Freunde.
Nachdem ein verunglücktes Attentat auf Hitler verübt worden war, fanden die Nazis Hinweise, dass auch Bonhoeffer etwas damit zu tun habe. Er kam so in Gefangenschaft, lebte unter widrigen Bedingungen und wurde letztlich von den Nazis umgebracht. Am Tage seiner Hinrichtung war der Krieg fast zu Ende und er konnte schon die Kondensstreifen der amerikanischen Flugzeuge sehen. So starb er im Angesicht der nahenden Befreiung den Märtyrertod.
Beide waren Menschen, die nicht mit ansehen konnten und wollten, dass die Schöpfung in Gefahr gerät: Die Aufnahme von Schuld war für beide in gewissen Situationen unausweichlich, wenn man weiterhin Verantwortung für Andere übernehmen wolle. So ist das Übernehmen von Verantwortung für eine Sache – Mord an Hitler/am Krieg teilnehmen – höher einzustufen als die persönliche Unschuld – wenn man keinen Widerstand leistet und somit zwar niemanden Schaden zufügt oder ermordet, aber eben auch nichts verändert.
Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer und Said Nursi gelten heute als Helden. Sie haben aus Liebe zu Gott, zu den Menschen und eben zur Schöpfung gehandelt und so Zivilcourage gezeigt. Diese Zivilcourage soll uns ein Vorbild sein.
Michael Sendker
Publiziert in der Ayasofya 34 2011