Integration 2.0: Wie die Eingliederungsdebatte zu einer Segregationsdebatte ausartet
Von Yasin Bas
Nachdem die Finanz- und Wirtschaftskrise vorüber zu sein scheint, widmet sich Deutschland einer offenbar neuen Krise: Die Krise der Integration. Auch in diesem Jahr kommt das Thema auf die Agenda. Im Gegensatz zu den Jahren davor wird das Thema aber intensiver, länger und vor allem aggressiver diskutiert, so wie in den „guten, alten Zeiten“ der 70er, 80er und 90er Jahre.
Wenn das Wort Integration fällt, braucht es nicht allzu lange, bis auch der Terminus „Islam“ und „Muslim“ sich dazugesellen. Die Begriffe werden spätestens seit September 2001 fast nur noch in einem Atemzug erwähnt und sind offenkundig unzertrennlich miteinander verbunden.
Der „Otto-Normal-Christ“ und „Ali-Normal-Muslim“ vermissen dabei aber noch ein wesentliches Wort. Dieses lässt noch einige Tage auf sich warten. Als die Diskussion um Integration und Islam fast beendet ist, prallt er aber mit ganzer Wucht in die mediale Diskussion hinein und bestimmt wie so oft die Agenda. Zeitlich gesehen ist der Begriff nicht besser zu wählen. Ganz unerwartet werden Luftfrachtpakete mit gefährlichen Inhalten entdeckt. Und da ist dieses fehlende Wort: „Terrorismus“. Jetzt sind sie komplett, die unzertrennlichen verbal- und medial miteinander verbundenen Gefährten: Integration, Islam, Muslim und Terrorismus.
Seit Wochen wird eine erregte und teilweise undifferenzierte Debatte über Einwanderung, Integration sowie die Rolle des Islam und der Muslime in der deutschen Gesellschaft geführt.
Verkehrte Welt: Ex-Bundesbanker wird Nationalheld – Der Bundespräsident zum Buhmann der Nation
Nachdem ein ehemaliger Bundesbankvorstand und Noch-SPD-Mitglied ein pseudowissenschaftliches Buch mit sozialdarwinistischen, rassenbiologischen sowie eugenischen Thesen herausgebracht und damit eine neuerliche Desintegrationsdebatte initiiert hat, warb Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum symbolträchtigen Tag der Deutschen Einheit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für das Gemeinwohl in unserem Land. Das deutsche Staatsoberhaupt betonte, dass neben dem Christen- und Judentum „inzwischen auch der Islam zu Deutschland gehört“. Der Bundespräsident unterstrich damit, dass sich unser freiheitlich-demokratischer Staat nicht im Stillstand befindet und ein lebendiges Gebilde ist. Konsequent und zutreffend war auch Wulffs Feststellung vor dem türkischen Parlament, das Christentum gehöre zur Türkei. Nach den erregt-ungestümen Zwischenrufen gegenüber der Rede des Bundespräsidenten, vor allem aus Südostdeutschland und der CSU, hätte folgende Erkenntnis vielleicht die Diskussion beruhigt: „Ja, auch Bayern gehört zu Deutschland“.
Christian Wulff hat bereits während seiner Zeit als Ministerpräsident in Niedersachsen wichtige Signale einer modernen, vorwärtsgewandten Integrationspolitik gesetzt. Er hat zur Einführung des Islamischen Religionsunterrichts in seinem Bundesland beigetragen, er hat den bundesweit ersten Studiengang zur islamischen Religionspädagogik an der Universität Osnabrück in die Wege geleitet und er hat als weitsichtiger Politiker in Hannover Aygül Özkan als erste muslimische Ministerin Deutschlands in sein Regierungskabinett einberufen. Christian Wulff hat damit nicht nur verdeutlicht, dass er der Präsident aller in diesem Land lebenden Menschen ist. Seine Rede zum Tag der Deutschen Einheit, war im wahrsten Sinne des Wortes eine Einheits- und Eintrachtsrede.
Die Union erfindet sich neu: Ein Steinzeitkonservatismus als Ideologie
Dennoch überschreitet die teilweise aggressive Suche bei einigen Politikern der CDU/CSU nach einem schärferen konservativen Profil die rote Linie einer vernünftigen, sachlichen Debattenkultur.
Es gibt nur noch vereinzelte Kräfte in der Union, die sich für mehr Sachlichkeit und Gelassenheit in der Integrationsfrage einsetzen. Diese Personen, wie Armin Laschet, Heiner Geißler, Rita Süssmuth oder David McAllister kommen aber unter dem seit einiger Zeit herrschenden Ton kaum noch zur Sprache. Die stattdessen benutzte Rhetorik und Metaphern schüren Ängste und Vorurteile. Wir alle müssten erkennen, dass die in dieser Form und in diesem Ton geführte Debatte uns nicht voranbringt. Im Gegenteil: Es bremst, ja verhindert sogar die Integration der Einwanderer, statt sie zu fördern.
Mit den geäußerten Vorschlägen und dem gewählten Ton begibt sich die Union in obsolet gewordene Diskussionen zurück. An den vorgetragenen Argumenten, denen sich die Teile der Union heute wie schon vor 25 bis 30 Jahren bediente, kann man auch erkennen, in was für einer verzweifelten Lage sie sich befinden muss. Manche alarmistischen Debattenführer bedienen sich Argumenten aus den 80er und 90er Jahren. Die damalige Hetze mündete darin, dass am Ende Häuser brannten und Menschen ihr Leben verloren, weil sie einem „fremden Kulturkreis“ angehörten. Auch damals „förderten und forderten“ zahlreiche seriöse Medien und gesellschaftlich anerkannte Netzwerke die Resonanz destruktiver Mächte. Genau diese Menschen aus „fremden Kulturkreisen“ möchte nun CSU-Vorsitzender Horst Seehofer nicht mehr in Deutschland haben. Wer den Islam, die Muslime und nicht selten die damit gleichgesetzten Migranten als ein Fremdkörper in Europa betrachtet, der bedient sich derselben Argumentationsmuster von sogenannten „Islamisten“, die nichts anderes tun, als genau das zu beteuern. Die harrsche Kritik konservativ-rechter Gruppierungen an Einwanderern und Integration ist zwar aus wahltaktischen Gründen sowie vor dem Hintergrund der historisch niedrigen Wahlprognosen für ihre Parteien erschließbar, dennoch ist sie nicht akzeptabel. Wahlkampf auf dem Rücken von Minderheiten und Einwanderern dient weder dem Gemeinwohl noch dem sozialen Frieden.
Kultur to go: Die deutsche Leidkultur und der Radikalismus in der Mitte
Nicht nur die Migranten, die in über 90 Branchen ca. 600000 Betriebe führen und Arbeitsplätze für rund 2,5 Millionen Menschen in Deutschland geschaffen haben, stellen sich die Frage, ob sie überhaupt noch in diesem Land willkommen sind. Viele Fragen sich darüber hinaus, ob die Bereitschaft in Teilen der Bevölkerung überhaupt existiert, Menschen mit Migrationsbiographie in Deutschland integrieren zu wollen. Äußerungen von Politikern aber auch Teilen der „ganz normalen“ Bevölkerung, der so genannten Mittelschicht, werden dahingehend gedeutet, dass man sich anstrengen kann, wie man will, aber dennoch nicht akzeptiert wird. Die aktuelle Studie „Die Mitte in der Krise“ der Friedrich-Ebert-Stiftung wird nicht zu Unrecht von Forschern als „Alarmsignal“ gedeutet, da rechtsextreme- und antidemokratische Einstellungen überraschend stark in der Mitte der Gesellschaft ausgeprägt sind. Wenn knapp 60 Prozent der Deutschen den Muslimen verbieten wollen, ihre Religion voll auszuüben und jeder Zehnte sich einen „Führer“ wünscht „der Deutschland mit starker Hand regiert“, dann befinden sich die demokratischen Werte in unserem Land in Gefahr. Folglich braucht man sich nicht wundern, wenn immer mehr gut ausgebildete Einwanderer und Hochschulabsolventen das Land verlassen. Wenn wir Integration wirklich wollen, müssen wir uns auch den Menschen, die zu uns kommen oder hier geboren sind, öffnen. Nicht nur wir persönlich, auch die Kommunen, Parteien, Behörden und Unternehmen müssen sich Migranten öffnen und „Vielfalt als Chance“ im internationalen Wettbewerb begreifen. Menschen dürfen nicht nach ihrer Religion, ihrer Herkunft oder Ethnie bewertet werden, sondern nach ihren Leistungen und ob sie sich an herrschende Werte, Normen sowie an die Gesetze des Landes halten. Deutschland schadet sich selbst, wenn es zulässt, dass Migranten, Arbeitslose, Alte und sozial Deklassierte gegeneinander ausgespielt werden. Die in diesem Zusammenhang initiierte Leitkulturdebatte, die eher zu einer „Leidkulturdebatte“ ausartet, bringt die Diskussion ebenso wenig weiter. Über eine „deutsche Leitkultur“ wurde bereits in der Vergangenheit oft debattiert. Der Begriff beschreibt einen gesellschaftlichen Wertekonsens. Dieser Wertekonsens ist neben dem Grundgesetz, das deutsche Rechtssystem mit all seinen Rechten und Pflichten.
Politische Heuchelei: Identitätsbildung durch Diskriminierung
Es ist schade, dass Einwanderer oder eine Religion wie der Islam ununterbrochen als Gegenpol zur christlichen oder der deutschen Mehrheitsbevölkerung gestellt wird. Wenn heute über den Islam oder Muslime gesprochen wird, wird der Glaube nicht als Religion, sondern als ein Politikum behandelt. Es geht um simple „Freund-Feind-Denkmuster“, um „Wir“ und „Ihr“. Es wird versucht, durch die Abwertung des „Anderen“ das „Eigene“ zu stärken. Es wird versucht, durch Ab- und Ausgrenzung eine „deutsche Identität“ zu schaffen, was auch immer dies sein soll. Die so plötzliche Betonung einer herrschenden „christlich-jüdischen“ Tradition in Deutschland wird auch von jüdischer Seite, namentlich durch Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden, zu Recht als Heuchelei bewertet. Nach dem größten Verbrechen gegen die Menschheit, dem Holocaust und den vorhergegangenen verwehrten Integrationsbemühungen an europäischen- und deutschen Juden, gehört viel Mut dazu, von einer „christlich-jüdischen“ Kultur in Deutschland – so wünschenswert sie ist – zu sprechen. Es wäre vielmehr ein erstrebenswerter Fall für Muslime, in einer „christlich-jüdischen“ Kultur mit zu leben. Muslime sind dies aus ihrer Geschichte und ihrer Tradition gewohnt. Sie haben im Osmanischen Reich und in Al-Andalus, bevor Nationalismus und Fanatismus die Koexistenz beendete, mit Angehörigen dieser Religionen friedlich zusammen gelebt. Und: Mit keiner anderen Religion verbindet der Islam mehr, als mit dem Juden- und Christentum. Das sollten die selbst ernannten „Islam- und Integrationsexperten“ bei ihren ideologischen Ausführungen bedenken.
Kultur oder Kulturkampf?
Eine überhebliche Kulturdefinition, wie sie bestimmte Parteien, Politiker sowie Medienvertreter benutzen, um die Lebensweise der Bevölkerungsmajorität der scheinbar andersartigen Minderheit im Land entgegenzusetzen, die die eigene, angeblich höhere Entwicklung als die einzig richtige Kultur begreift, ist nichts anderes als eine Form des Ethnonationalismus und Ethnozentrismus. Eine Pseudokultur, die sich als unverwechselbar oder einzigartig begreift und keine Interaktion oder Veränderung zulässt, befindet sich nicht nur im Stillstand, sondern Nahe dem Rückgang. Diese kulturelle Stagnation stellt bestimmte Kreise vor neuen Herausforderungen. Da sie aber mit ihrer komplexen Situation nicht weiterkommen, versuchen sie sich durch ein Hochhalten und Überbetonen ihrer „MonoKultur“ am Leben zu halten, obwohl sie sehr wohl wissen, dass sie dabei nur Durchhalteparolen benutzen. Die herbeigeführte Kulturdebatte überlagert eine sehr viel mehr ernstzunehmende Problematik: Die Frage nach dem Verhältnis der Politik zur Wirtschaft und dem Finanzkapital sowie der nach gerechten gesellschaftlichen Verhältnissen. Ist es nicht verwunderlich, dass kaum noch jemand über die Konsequenzen und Verantwortlichen der Wirtschafts- und Finanzkrise und der ökonomisch-sozialen Gerechtigkeitsprozesse diskutiert?
Dass bestimmte Netzwerke mit diesen scheinheiligen Mitteln ihr Profil schärfen wollen, verursacht Bedenken bei den Deutschen mit Einwanderungsgeschichte. Es tut ebenso dem gesamten Land nicht gut. Eine scheinbar eingeschworene Gruppe von Parteien und Institutionen, unter ihnen auch seriösen Massenmedien, denken und handeln destruktiv. Anstatt Brücken zu bauen, ziehen sie Grenzen. Anstatt zu versöhnen, spalten sie das Land. Diese Spaltung kann aber weiterreichende Folgen mit sich bringen, die möglicherweise irgendwann irreversibel werden. Eine vernünftige deutsche Gesellschaft darf dies nicht zulassen.
Klinisch Tod: „Multikulti“ ringt nach schwerem Unfall ums Überleben
„Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft. Muslime sind in Deutschland willkommen.“ Dieses Zitat stammt nicht von einem „Multi-Kulti-Illusionisten“, sondern von dem ehemaligen Innenminster Wolfgang Schäuble, der diesen Satz 2006 zum Auftakt der Islamkonferenz gebrauchte. Damals hat sich niemand über diese Wirklichkeit beschwert. Der Islam ist nach dem Christentum die zweitgrößte Religion in Deutschland. Die ersten muslimischen Einwanderer lebten hier bereits vor mehr als hundert Jahren. Die eigentlich, bedeutende Einwanderung der Muslime nach Deutschland begann aber vor ungefähr 50 Jahren mit den so genannten Arbeitsmigranten. Seit knapp 50 Jahren haben Muslime ihren Platz in der deutschen Gesellschaft inne. Sie sind in allen Bereichen der Wirtschaft, Kultur, Sport, Wissenschaft, Politik, Literatur etc. aktiv. Wohin gehören diese Menschen eigentlich, wenn nicht nach Deutschland?
Allein die Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehöre, zeigt bereits, dass es schon ein Teil dieses Landes geworden sein muss. Deutsche Muslime gehören so sehr zu Deutschland wie britische Muslime zu Großbritannien und Französische Muslime zu Frankreich. Zudem besagt die Aussage der Kanzlerin – auch wenn es scheinbar unbeabsichtigt war – „Multikulti“ sei gescheitert oder die ihres Kollegen Seehofer, „Multikulti ist tot“, dass es anscheinend vorher schon kulturelle Vielfalt gegeben haben muss. Würde man sonst über das angebliche Scheitern oder den Tod von etwas sprechen? Eine derart ausdrückliche Ablehnung kultureller Vielfalt und Verschiedenheit, weist Verständnisschwierigkeiten beim Pluralismusbegriff auf. „Multikulti“ muss nicht ein Nebeneinanderleben in Parallelgesellschaften bedeuten. Es kann auch positiv als ein Miteinanderleben von verschiedenen Kulturen und Potentialen verstanden werden, das uns im internationalen Wettbewerb weiterbringt und das Leben in Deutschland bereichert. Fatih Akin, Mesut Özil, Vural Öger sind Produkte eben dieser kulturell vielfältigen Gesellschaft in Deutschland.
Kontraproduktiv für unser Land wird es, wenn eine Lebenswirklichkeit in einer verkrampften Erkenntnis- und Realtitätsverweigerung mündet. Mit dieser Einstellung haben wir in unserer gemeinsamen, jüngeren Vergangenheit viel Zeit verloren, was dazu geführt hat, dass Deutschland erst nach Jahrzehnten als Einwanderungs- und Integrationsland anerkannt und erst 1999/2000 das auf Blut und Abstammung (Rasse) basierende deutsche Staatsangehörigkeitsrecht reformiert wurde. Heute aber verschließen sich einige rückwärtsgewandte Politiker dieser Realität und möchten die Errungenschaften wieder rückgängig machen. Sie führen eine ideologische Debatte, bei der sie nicht auf Vernunft, sondern auf Emotionen setzen. Angesichts der Tatsache, dass über 16 Millionen Deutsche eine Migrationsbiographie haben, also knapp 20 Prozent der Deutschen einen Einwanderungshintergrund besitzt, dass fast fünf Millionen Muslime, davon 3,5 Millionen Türkischstämmige in Deutschland leben, ist sowohl der Islam als auch kulturelle Vielfalt eine Lebenswirklichkeit in unserem Land.
„Vielfalt als Chance“: Für ein weltoffenes, starkes und erfolgreiches Deutschland
Für manche Traditionalisten, Wahlkämpfer und Ideologen ist diese Wahrheit vielleicht schwer zu verdauen. Auch für Modernisierungsverlierer, die von der Globalisierung, der Wirtschafts- und Finanzkrise, den Sozialstaatsreformen wie Hartz-IV und den Transformationsprozessen der heutigen Zeit unmittelbar betroffen sind, könnte diese Erkenntnis durchaus schmerzhaft sein. Sie ist aber Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit müssen wir anerkennen. An dieser Wirklichkeit müssen wir gemeinsam konstruktiv mitwirken, damit wir langfristig unser Deutschland noch erfolgreicher, noch wettbewerbsfähiger und noch lebens- und liebenswerter für nachfolgende Generationen gestalten können.
Publiziert in: Ayasofya, Nr.30 2010