Das Grubenunglück in Soma im Jahr 2014 war das schwerste
in der Geschichte der Türkei. Es ist zugleich das schlimmste
weltweit seit fast 40 Jahren. Auch die Kriege in Syrien oder
Irak. Wie viele Väter dabei ums Leben kommen, ist unklar.
Die Trauer der Hinterbliebenen, besonders die der Kinder, ist
unermesslich.
Wer braucht Väter? Sie gebären nicht, sie stillen nicht, sie
wickeln selten. Sind sie überhaupt zu etwas gut? Seit die
Fernwärme ins Haus kommt und die Kohlen nicht mehr in
den fünften Stock geschleppt werden müssen und Frauen
ihr Geld selbst verdienen, gelten Väter als entbehrlich.
DIE FUNKTION VON VÄTERN IN DER ENTWICKLUNG
DER KINDER
Was macht einen Vater eigentlich aus? Was unterscheidet ihn
in der Wahrnehmung der Kinder denn von der Mutter? Diese
Wahrnehmung beginnt schon früher als manche glauben
würden, nämlich schon im Mutterleib. Dort kennt das Kind
die Wärme und Geborgenheit der Mutter, ihre Atmung wenn
sie schläft, ihre Stimme wenn sie spricht. Aber da ist noch
etwas anderes, eine leisere, tiefere Stimme, die immer wieder
mal von draußen rein kommt: die des Vaters. Sie klingt anders.
Nach der Geburt, wenn der Säugling nichts anderes kennt als
die momentan unmittelbar auf ihn einwirkende Umgebung,
wird dieser Unterschied noch deutlicher: wenn das Baby auf
der Brust des Vaters liegt und er spricht, merkt es, dass die
Stimme nicht nur anders klingt sondern sich auch anders
anfühlt: die tiefe Stimme vibriert, das tut die der Mutter nicht
so stark. Der Vater riecht auch anders, und er bewegt sich
anders – nämlich ruppiger, kraftvoller, nicht so zärtlich wie
die Mutter. Und das Gesicht des Vaters sieht anders aus, seine
Bartstoppeln fühlen sich anders an.
Es sind die Väter, die Kinder hoch in die Luft werfen und
wieder auffangen, bis sie vor Lachen Tränen in den Augen
haben. Es sind die Väter, die Kindern mehr Selbstständigkeit
zutrauen und sie dadurch im Umgang mit Gefahren schulen,
ihnen z.B. das Fahrradfahren beibringen, oder mit ihnen
im Bach baden gehen. Nichts davon ist eine Mutter unfähig
zu tun, aber sie tut es eben anders: vorsichtiger, behutsamer,
sanfter.
TOD UND TRAUER IM ERLEBEN VON KINDERN
Es fällt schwer, die Welt des Kindes mit dem Tod in Beziehung zu
setzen, steckt ein Kind doch voller Entwicklungsmöglichkeiten.
Der Tod aber markiert den Endpunkt unseres Lebens, er passt
zum alten Menschen. Die Kinder üben sich ins Leben ein,
da hat der Tod keinen Platz. Der Tod – das große Tabu des
Lebens. Auf den ersten Blick erscheint es vernünftig, denn
was Erwachsene nicht begreifen können, das sollen ausgerechnet
Kinder verstehen? Stattdessen erleben die Kinder das
Ritual der Trauerfeierlichkeiten, viele Besucher, Verwandte, die Beerdigung als Abschluss und der Papa ist nicht mehr
da! Die Leere und die Stille, welche er hinterlässt, beginnen
zu wachsen. Wo vorher eine wechselseitige Beziehung dem
Alltag lebendige Farbtupfer schenkte, ist nun nichts mehr.
Im Gefühlsrepertoire des Kindes sind Ausdrucksweisen für
Schmerz und Trauer vorhanden, weil es in seinem bisherigen
Leben dies bereits kennen gelernt hatte, wenn z.B.
eine Freundschaft zu Ende ging, es Abschied nehmen
musste, akzeptieren lernte, dass es Vorkommnisse gibt, die
nicht nach seinen Wünschen gehen. Doch was es beim Tod
erlebt, übersteigt seine Erfahrungen. Es kann sich nur an
den Erwachsenen orientieren, spiegelt sich in der Trauer der
Mutter oder der Verwandten. In erster Linie lernt es ein neues
Fühlen kennen, das Gefühl der Verlassenheit und der Leere.
Ein trauerndes Kind lernt neue Gefühlsfacetten kennen, kann
sich nicht mehr einordnen und zu Hause fühlen in seiner
bisherigen Gefühlslandschaft. Es benötigt für seine emotionale
Absicherung einen Erwachsenen, an dem es sich orientieren
kann. Wenn Erwachsene schützende Denkmauern
brauchen, dann muss das nicht für Kinder gelten. Es gibt
eine jedem Kind innewohnende Natürlichkeit, die es ihm
gestattet, sich mit der ihm eigenen kindlichen
Leichtigkeit den Fragen nach den
Geheimnissen des Lebens zu stellen. So
übt es bereits Annäherung an dieses
große Lebensthema, bevor es konkret
mit dem Sterben konfrontiert ist. Bei
Cowboyspielen benutzen Kinder oft das
Wort „tot“ und „sterben“. Die erschossenen
Feinde fallen reihenweise um, spielen
kurz danach kerngesund weiter. Das magische
Denken des Kindes erlaubt ihm das
Widerleben.
TRAUMA IM KINDESALTER
Das medizinische Klassifikationssystem ICD-10 und die zugehörigen
diagnostischen Anleitungen beschreiben Trauma
als: „[…] ein belastendes Ereignis oder eine Situation
kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei
fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde
(z. B. Naturkatastrophe oder menschlich verursachtes
schweres Unheil, schwerer Unfall, Beobachtung
des gewaltsamen Todes Anderer, Terrorismus,
Vergewaltigung oder anderen Verbrechen).“
Der Tod des Vaters stellt vielleicht kein häufiges, aber
doch sicherlich traumatisierendes Ereignis für die gesamte
Familie und somit auch für die Kinder dar, da er zumeist
einen radikalen Wechsel der sozioökonomischen Lage, der Lebensgewohnheiten, des Lebensstils und der familiären
Interaktion mit sich bringt. Ob ein Kind aufgrund einer traumatischen
Situation mit einer psychischen Störung reagiert und
welches Krankheitsbild danach im Vordergrund steht, hängt
meistens von der allgemeinen psychischen Stabilität eines
Kindes und dem weiteren Umfeld an festen Bezugspersonen
ab. Doch aufgrund ihres Entwicklungsstandes stehen ihnen
weniger Bewältigungsmechanismen zur Verfügung als
Erwachsenen. Das kann zu Verzweiflung, Wut, Ohnmacht
und Enttäuschung, auch den Bezugspersonen gegenüber,
führen. Zum Teil wird es seine Erregung ausleben, indem es
übererregt ist oder wie abgeschaltet, sich zurück zieht und
in sich selbst eine Lösung sucht. Oder im Wechsel beides, es
wird vielleicht Wutanfälle haben oder verschiedene Ängste
benennen.
FOLGEN KINDLICHER TRAUMATISIERUNG
Nach dem medizinischen Klassifikationssystem ICD-10
sind „typische Merkmale (…) das wiederholte Erleben
des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen
(Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder
Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden
Gefühls von Betäubtsein und emotionaler
Stumpfheit (…). Ferner finden sich
Gleichgültigkeit gegenüber anderen
Menschen, Teilnahmslosigkeit der
Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit
sowie Vermeidung von Aktivitäten
und Situationen, die Erinnerungen
an das Trauma wachrufen könnten.
Meist tritt ein Zustand von vegetativer
Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung,
einer übermäßigen Schreckhaftigkeit
und Schlafstörung auf. Angst und
Depression sind häufig mit den
genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und
Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt
dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis
Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der
Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet
werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele
Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine
andauernde Persönlichkeitsänderung über“.
Trauma ist durch Abspaltung und Fixierung gekennzeichnet.
Es stehen nicht alle Lebenserfahrungen,
Persönlichkeitsanteile und Fähigkeiten frei zur Verfügung,
und nicht alle Handlungsmöglichkeiten können auch genutzt
werden. Konkret bedeutet das zum Beispiel eine Abspaltung
des „inneren Kindes“ vom normalen Lebensfluss. Spiel
und Freude bereiten kein Vergnügen, stattdessen regieren
auch dort Ernst und Vernunft. Die abgespaltenen kindlichen
Teile ihrerseits sind noch da, kommen aber nicht mit dem
Leben in Kontakt. Es kann zu gelegentlichen oder regelmäßigen
Ausbrüchen kommen, in denen sich der immer neu
entstehende innere Druck entlädt. Kinder spüren, dass etwas
„wesentliches“ in ihrem Leben fehlt, und reagieren darauf
mit innerer Verleugnung und Abstumpfung oder ständiger
Suche. In Körper und Motorik sind oft Steifheit, Asymmetrien
oder Störungen des Bewegungsflusses zu finden. Die
Symptome wiederum werden vom bewussten Erleben nicht
verstanden und können Ursache für weitere Fixierung oder
Ängste werden. Häufig gibt es ein anscheinend grundloses
Auftreten sich wiederholender Gefühlszustände, sei es in
Richtung Wut, Zorn, Angst oder in Richtung Trauer.
Auch wenn der Vaterverlust im erwachsenen Alter erlitten
wird, bildet er für die Person einen Wendepunkt in ihrem
Leben, da erst mit dem Tod des Vaters die Vater-Kind-
Beziehung realisiert und reflektiert wird. Die neuesten wissenschaftlichen
Ergebnisse der Mannheimer Kohortenstudie
(2011) verdeutlicht, dass das
Risiko psychischer Erkrankungen
beim Fehlen des Vaters auch
noch nach 50 Jahren um das 2,5
fache höher ist.
Kinder, die das Trauma nicht
verarbeiten können entwickeln,
Verhaltensstrategien, mit denen
sie in einer traumatisierenden
Umwelt überleben können.
Nach Wilma Weiß (Buch: Philipp
sucht sein Ich) reinszenieren sich
die Kinder durch sexualisierte Verhaltensweisen, aggressives
und grenzüberschreitendes Verhalten oder Rückzug.
Durch Verhaltensstörungen, bzw. Verhaltensauffälligkeiten,
machen sie auf ihre Probleme und ihre Stresssituation
aufmerksam. Sie sind dann nicht gestört, sondern reagieren
normal auf eine unnormale Situation. Laut der Kinder- und
Jugendgesundheitssurvey aus den Jahren 2003-2006 geht
hervor, dass ca. 17% der Jungen an emotionalen Problemen
und ca. 28% an Verhaltensproblemen leiden. Hingegen
Mädchen ca. 16% emotionale Problemen und ca. 19%
Verhaltensprobleme aufzeigen.
Umgang mit traumatisierten Kindern
Langzeitstudien von Holocaust überlebenden Kindern hat
erwiesen, dass nicht der Ausmaß, die Grausamkeit oder
die Dauer des traumatischen Ereignisses ausschlaggebend
für die Entwicklung der Kinder ist, sondern was mit ihnen
„nach“ dem Trauma passiert. Zum Überwinden des Traumas
sind folgende Aspekte zu beachten:
1. „Dasein“: Mitempfinden, das Kind in den Arm nehmen.
Das ist es, was die trauernden Kinder brauchen und annehmen
mögen. Es sind die leisen Töne, die tief reichen, Gesten
des Verstehens. Blicke, eine Hand, die über die kurz geschorenen
Haare streicht, ein wissendes Lächeln.
2. In Kontakt treten: Es ist immer sehr schwer, seinen
Gefühlen mit wohlgesetzten Worten Ausdruck zu verleihen,
wenn man den Tod eines nahestehenden Menschen erleben
und verarbeiten muss. Doch sind diese Worte wichtig, da sie
den Hinterbliebenen helfen, mit ihrer eigenen Trauer besser
umgehen zu können. Dabei sollte das Schreien, Schimpfen,
Entwertungen, moralische oder Vernunft-Appelle vermieden
werden.
3. „Erinnern“: Die Verbindung zum Verstorbenen sollte
lebendig gehalten werden. Denn auch der tote Vater, bleibt
immer der Vater!
4. Zusammenhänge erklären!
5. Sicherheit in der Beziehung
bieten!
6. Bei Verhaltensrückfälle
(Einnässen oder Angst im
Dunkeln) die Ruhe und Klarheit
bewahren, vor allem Verständnis
zeigen!
7. Ein Besuch auf dem Friedhof
kann zur seelischen Entlastung
der Kinder beitragen.
8. Bei Trauerprozessen können Symbole helfen, Worte in
bildhafter Weise auszudrücken. Mit ihrer heilsamen und
ordnenden Funktion bewirken Symbole Verarbeitung und
ermöglichen Distanzierung.
Zehra Arslan
Ayasofya Nr. 57